Veintiuno

Alt genug?

Mit dem Messer in der Hand humpelte Liselotte über den Flur. Währenddessen schimpfte sie ohne Unterlass. Ganze Sätze waren Mangelware. Stakkatoartig hustete sie Wortgruppen auf den Flur, deren Inhalt sich dem geneigten Zuhörer nicht von selbst erklären wollten. Schließlich hielt sie an einer Tür an und schaute angestrengt auf das Schild: Irmgard H.

Ohne Anzuklopfen riss sie die Tür mit erstaunlichem Schwung auf und humpelte ins Zimmer. Dabei erhob sie das Messer und fletschte die Zähne.

Irmgard kauerte ihr zugewandt auf dem Boden und schaute mit weit aufgerissenen Augen in ihre Richtung. Liselotte blieb mit weiterhin erhobenem Arm stehen und versuchte, sich ein Bild zu machen.

Irmgard hatte die Vorhänge geöffnet und die Mittagssonne durchflutete den Raum. Liselotte musste sich die andere Hand schützend vor die Augen halten, um nicht völlig geblendet zu werden. Erstarrt stand sie da, ganz ohne Murren, völlig verstummt, und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das Licht gewöhnen würden.

„Warum hast du die Vorhänge aufgezogen, Irmgard?“, fragte Liselotte schließlich. „Warum nicht? Es ist Tag! Und wozu dieser anklagende Unterton, Nachbarin? Ich habe Dich ohnehin nicht eingeladen …“ „Na und? Aber wer in Gottes Namen braucht soviel Licht?“ „Ich brauche das, Nachbarin, ich. Denn meine Kontaktlinsen finden sich nicht von allein“ „Dann finde sie schneller, ich hab‘ noch ‚was vor!“ „Ach, du ‚hast noch ‚was vor‘, Nachbarin“, erwiderte Irmgard verächtlich, „Das klingt ausgesprochen interessant. Wenn ich meine Kontaktlinsen wiedergefunden habe, musst du mir das ganz detailliert erzählen. Solange kannst Du mir aber beim Suchen helfen. Wie du sicher weißt, bin ich ohne meine Kontaktlinsen nicht zu gebrauchen“ „Ja, ja, weiß ich. Aber einen Teufel werde ich. Du kannst deine Kontaktlinsen alleine finden“

Etwas wirr schaute sie nun trotzdem im Raum umher und wippte nervös auf ihren Füßen. Den Arm mit dem Messer nahm sie herunter und auch der andere Arm durfte ruhen, denn die Augen hatten sich an das Licht gewöhnt. Das Messer erzeugte ein Lichtspiel an der Wand. Irmgard suchte den Teppich weiter ab.

„Liselotte …“

„Liselotte!“

„Ja, was denn?“, rief sie gereizt.

„Lass das Gesuche. Es hat doch keinen Zweck“

„Wieso?“

„Lass es doch bleiben. Ich habe dir etwas zu sagen. Das geht zur Not auch ohne Kontaktlinsen …“ „Das glaubst du also? Ich habe meine Kontaktlinsen schon längst eingesetzt!“, sagte Irmgard laut und zog behänd eine winzige Pistole aus ihrem Rock hervor. Liselotte gab keinen Laut von sich, doch ihre Miene verfinsterte sich.

„Ich habe schon geahnt, dass du hier aufkreuzen würdest, um irgendetwas Furchtbares zu tun. Also habe ich mich vorbereitet“

„Ach, hast du das?“ Liselotte lachte hart.

In diesem Moment wurde die Tür noch weiter aufgestoßen und Helga kam an ihrem Gehstock hereingestolpert. Auch sie hatte eine kleine Pistole in der Hand und ein wildes Funkeln in ihren 84-jährigen Augen ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Waffe einsetzen würde.

„Da staunst du, Liselotte, nicht wahr? Du dachtest, du könntest mit mir, deiner besten Freundin, Pistolen kaufen gehen und jetzt das hier. Deine ‚beste Freundin‘ hintergeht dich, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken!“

Sie ließ eine kurze, vermutlich dramatisch gemeinte Pause und drückte ab. Stille. Es löste sich kein Schuss. Auch die nächsten Versuche blieben ohne Erfolg. Die Pistole kam ihrem Auftrag nicht nach. Helgas Grinsen entglitt und wich allgemeiner Ausdruckslosigkeit.

Im Angesicht der Pistole in Irmgards Hand hätte man vielleicht Furcht oder Panik erwartet, doch darüber schien sie hinweg zu sein.

„‚Beste Freundin‘ sagst du? Ich kenne dein dunkles Geheimnis längst. Schon seit Monaten kannst du mir nichts mehr vormachen“, rief Irmgard so laut, dass es der ganze Flur hören musste.

„Schrei doch noch lauter, Irmchen, damit auch die Wachen am Eingang etwas hören und schnell heraufkommen?“, erwiderte Helga, „Was die wohl zu unseren Pistolen sagen werden?“

Und siehe da. Es ließen sich Schritte auf dem Flur vernehmen. Helga und Liselotte zuckten zusammen, nur die schwerhörige Irmgard ließ sich nichts anmerken. Helga schaute umgehend nach, wer sich näherte.

„Es ist Alma“, flüsterte Helga.

„Trauma-Alma?“, fragte Liselotte.

„Ja, die österreichische Trauma-Alma. Keine Ahnung, wie sie es hierher geschafft hat“

„Die wohnt doch zwei Stockwerke tiefer, nicht wahr?“

Irmgard gefiel das Tuscheln der beiden Frauen vor ihr gar nicht: „Wer kommt da? Sagt mir auch mal jemand etwas?“

„Nur, wenn du deine Pistole ‚runternimmst!“, sagte Liselotte. Irmgard blickte etwas nachdenklich, ließ die Waffe schließlich sinken und versteckte sie wieder.

Als sie gerade damit fertig war, kam Alma zur Tür geschlichen. Sie schob einen Gehwagen vor sich her und blickte nacheinander mürrisch auf die drei Frauen.

„Wisst ihr was!“, begann sie unfreundlich, „Eure Eskapaden sind legendär. Alle paar Wochen duelliert ihr euch auf scheinbar höchstem Niveau und denkt euch neue Möglichkeiten aus, euch gegenseitig auszuspielen. Aber heuer bin ich eurer Eskapaden überdrüssig. Es muss ein Ende haben!“

„Ach Alma“, begann Helga, „Du nimmst diese Angelegenheiten viel zu ernst. Und außerdem gehen sie dich gar nichts an. Geh wieder zurück in dein Zimmer und …“

„Einen Teufel werde ich. Jedesmal enden eure Spielereien damit, dass die Wachen kommen müssen und euch ruhigstellen. Wenn ihr dann wenigstens dazulernen würdet! Ich habe der Heimleitung schon so oft gesagt, dass sie nicht alle Demenzkranken auf einem Flur unterbringen soll. Das bringt nur Unglück!“

Die Anwesenden schauten etwas ratlos in die Runde. Der Nährboden für schlagfertige Erwiderungen war mit einem Schlag verödet.

„Aber kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen“, fuhr Alma fort, „Ich habe da etwas vorbereitet“

Alma schlug die Decke zurück, die sie über ihren Gehwagen gelegt hatte und legte eine Reihe Handgranaten frei.

Noch ehe eine der Überraschten etwas sagen konnte, hatte Alma bereits die erste Handgranate scharf gemacht.

„Granaten mit Zeitzünder, übrigens“, meinte Alma beiläufig.