Veintiuno

Gefangen

Herr Müller, 54, verheiratet, zwei Kinder, steht montags bis freitags um 5.30 Uhr auf. Gewaschen und geputzt verlässt er sein bald abbezahltes Eigenheim um 6.15 Uhr. Arbeitsbeginn 7.00 Uhr.Mittagspause 12.30 Uhr, Schluss 16.30 Uhr.

Nach einem Tag ohne nennenswerte Vorkommnisse kommt er um 17.00 nach Hause. Durch die Arbeit erschöpft lässt er RTL, ein paar Bier und das Gerede seier Frau über sich ergehen. Manchmal streut er konfus Erlebnisse aus seinem Alltag ein. Zu seinem Glück hört sie ihm genauso wenig zu wie anders herum.

Rechtzeitig, gegen 21.30 Uhr, begibt er sich leicht betrunken ins Bett, um den beschriebenen Ablauf am nächsten Tag wieder aufleben zu lassen. Oft überkommt ihn vor dem Schlafen unwillkürlich ein Schauer bei dem Gedanken an die kommenden Tage, doch sein wohliges Bett lässt ihn schließlich vergessen.

Wochenends schaltet er auf Entspannung um. Er geht seinem einzigem Hobby, dem Sammeln seltener Regenwurmarten nach (2004, als der Regenwurm zum “wirbellosen Tier des Jahres” ernannt wurde, war er besonders aktiv). In Fachkreisen genießt er einige Anerkennung. Samstags darf etwas mehr getrunken werden und der wöchentliche rituelle, wenn auch größtenteils lustbefreite, Beischlaf nicht fehlen.

Manchmal, während kurzer Momente am Wochenende, wenn der Alltag für Sekunden seine Wirkung verliert, überkommt ihn eine tiefe Leere und Traurigkeit. Er hält inne bei dem, was er gerade macht und starrt betreten vor sich hin. Erinnerungsfetzen kehren wieder, Episoden aus seinem Leben finden bruchstückhaft Zugang zur Gegenwart.

In Chronologischer Reihenfolge zusammengefasst:

  • Unaufgeregte Kindheit, mittelmäßig viele mittelmäßige Freunde
  • Treffen seiner Zukünftigen während seiner wilden Zeit auf Malle.
  • Miteinander gehen, bis es langweilig wird
  • Verloben, bis es eintönig wird
  • Heiraten, bis es anstrengend wird
  • Kinder bekommen und großziehen, bis die Kinder wegziehen
  • Midlife-Crisis bekommen und abgedrehte Ideen umsetzen, bis sich herausstellt, dass es keinen Unterschied macht
  • Sich auf Langeweile einstellen, weil nichts mehr bleibt

Lange währt die Ohnmacht nicht. Schnell schüttelt er das Ungewohnte ab, stellt den Status Quo wieder her.

Wenn er allzu unruhig wird, ruft er sich stets innerlich zu: “Mir geht’s gut! Mir geht’s prächtig!”