Veintiuno

Murakami: Schlaf

Mit Schlaflosigkeit kennt sich die Hauptfigur der Geschichte wegen eines ähnlichen Vorfalls vor Jahren aus. Aber auf ihre neue Situation ist die Mutter und Hausfrau nicht vorbereitet. In ihrem sonst tristen Leben voll gleichförmiger Abläufe und ebenso gleichförmiger Interaktionen mit vorhersagbaren Menschen in ihrer Umgebung öffnet sich eine Lücke: die Nacht.

Während andere schlafen müssen, bleibt sie problemlos hochkonzentriert wach, nachdem sie einem finsteren Traum entkommen ist. Sie trinkt Cognac, isst Schokolade und liest dabei ein Buch nach dem anderen, ganz wie früher, als sie noch ungebunden und das Lesen essentieller Bestandteil ihres Lebens war.

Dabei wird ihr Verhältnis zur Realität immer gebrochener. Die ohnehin mechanischen Arbeiten des Tages verlieren jeden Sinn, die Interaktion mit ihrer Familie wird zur Farce. Veränderungen wie ihre durch Schwimmen verbesserte Physis werden offenbar nicht wahrgenommen.

Der Bruch mit der Realität wird am deutlichsten, als sie sowohl ihren Mann und auch ihren Sohn im Schlaf beobachtet und für sich feststellen muss, dass sie der Ekel bei ihrem Anblick packt.

Mit zunehmender Klarheit und Absonderung von der Realität erfasst sie eine unangenehme Unruhe, die sie eines Abends durch eine Fahrt in ihrem City auszugleichen versucht. Dadurch werden ihre Probleme jedoch nur verstärkt.

Auf einem einsamen Parkplatz wird sie von zwei Männern überfallen, die ihr Auto durch Wippen zum Umstürzen bringen wollen. Es ist wohl der gleiche Parkplatz, an dem vor Kurzem ein Pärchen umgebracht wurde, wie ihr ein Polizist beim letzten Besuch mitteilte.

Damit endet die Geschichte abrupt und der Leser muss sich selbst einen Reim darauf machen, warum das so ist. Ist bereits alles gesagt? Greift hier eine Vorstellung, die man nur verstehen kann, wenn man Japaner ist? Offenes Ende?

Zur Interpretation der Geschehnisse sind mir ein paar Ideen gekommen:

  1. {=html} </p> Die Akteurin ist bereits zu Beginn der Geschichte tot. Sie starb in der Nacht ihres schrecklichen Alptraums, in dem sie bewegungsunfähig von einem älteren Mann an den Füßen mit Wasser begossen wird.

    Im Zustand des Todes, den schließlich kein Lebender kennt, durchläuft sie (geistig?) weiter ihren Alltag mit Ausnahme des Schlafs (des “kleinen Tods”). Da sie nicht durch Schlaf “auffrischen” kann, hängt sie für immer^1)^[oder bis zu ihrer Auslöschung]{#footnote_plugin_tooltip_text_1 .footnote_tooltip} in ihrer aktuellen Disposition, die sich durch die freudlose Interaktion mit ihrer Umwelt zeigt.

    Da sie tot ist, verbraucht sie allerdings auch keine Energie und kann ungehemmt ihren Tätigkeiten nachgehen.

    Der abschließende Überfall könnte ihre Auslöschung oder nur eine Episode sein, wobei ich zu ersterem Tendiere. Sie nimmt immer weiter Abschied von ihrem bisherigen “Leben” und sucht vielleicht unbewusst ein Ende dessen.

  2. {=html} </p> Die Akteurin erlebt die Geschehnisse tatsächlich. Die Gründe für den Schlaf als Notwendigkeit sind nicht hinreichend geklärt. Es wäre denkbar, dass man mit bestimmten Genen ausgestattet tatsächlich ohne Schlaf auskäme. Ein Schlafentzug im klassischen Sinne wäre nicht möglich, denn dann wäre es der Akteurin nicht möglich, konstante Aufmerksamkeit zu produzieren.

    Auch in dieser Variante würde die unveränderliche Disposition ein Abreißen von der Realität herbeiführen, dafür aber zum Ende durch zunehmenden Stress und der folgenden Gewalttat der unbekannten Angreifer zum Tode führen.

  3. {=html} </p> Die Akteurin befindet sich in einem Koma. Vielleicht durch den in Punkt 2 angegebenen Traum ausgelöst fällt die Akteurin in ein Koma, in dem der Schlaf illusorischerweise aufgelöst erscheint. Mit fortschreitender Zeit emanzipiert sie sich von dem fahlen Abguss der Realität, den ihr Hirn ihe vorspielt und ist gegen Ende der Geschichte kurz davor, das Bewusstsein wieder zu erlangen. Das Rütteln des Wagens steht dementsprechend für Menschen außerhalb ihrer Traumwelt, die sie zu wecken versuchen.

Man kann die Geschichte aber auch auf sich bewenden lassen. Wer offene oder grübelfreundliche Enden nicht mag, ist bei dieser Erzählung an der falschen Adresse.

Für die Verbleibenden dürften die ganzseitigen Illustration im Buch von Interesse sein. Hochwertig in Schwarz, Weiß und glänzendem Silber gedruckt, unterstützen die Bilder von Kat Menschik die Botschaften des Texts. Eine perfekte Symbiose ist nicht gelungen, aber eine gute Kombination auf jeden Fall.

Wer sich für Bilder nicht begeistern kann und mehr Wert auf Inhalt legt, kann deutlich Geld sparen, indem er den Band “Der Elefant verschwindet” kauft.

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