Solid Green, Teil 1: Henriette
Henriette ist verschwunden.
Ich versuchte zuerst, sie zuhause anzurufen. Sie ging stundenlang nicht ans Telefon.
Also fuhr ich mit dem Bus zu ihr und klopfte an ihre Tür. Es stellte sich heraus, dass ihre Schwestern in Sorge auf sie warteten und bereits bei Freunden und Bekannten angerufen hatten, um sie ausfindig zu machen.
Die Polizei würde als nächstes informiert werden, informierte mich Henriettes kleine Schwester Fine. Wobei „kleine Schwester“ etwas irreführend ist. Mit 22 Jahren ist sie weder klein noch ausgesprochen jung.
Jedenfalls habe ich mich immer gut mit ihr verstanden. Deshalb betrübte es mich, sie ausgesprochen traurig zu sehen.
Sie ließ mich schließlich herein und brachte uns etwas Tee und Gebäck. Dabei versuchte sie, ihre Fassung wiederzufinden. Einfach entspannt Tee trinken und ein bisschen reden.
Ihre Hände zitterten beim Einfüllen der Zuckerwürfel. Ärger zeichnete sich auf ihrer gerunzelten Stirn ab. schließlich war der Zucker verteilt und sie reichte mir meinen Tee, nur um ihn im letzten Moment zu verschütten.
Erschrocken starrte sie auf mein Kleid, auf dem sich ein Wasserfleck auszubreiten begann.
„Hast du mal was zum Aufsaugen?“, fragte ich sie. Augenblicklich sprang sie auf und rannte in die Küche, um ein Tuch zu holen.
Nach wenigen Sekunden kam sie mit gesenktem Blick zurück. Ich versuchte, sie anzulächeln, doch sie schaute weg. Ich konnte erahnen, dass ihr Tränen das Gesicht herunterliefen.
„Weißt du“, begann sie, nachdem ich mich halbwegs getrocknet hatte, „Man hört so Dinge von Solid Green.“
Ich schaute sie verständnislos an.
„Solid Green ist die Firma, bei der Henriette am Montag angefangen hat“, erklärte Fine. Sie reichte mir eine Visitenkarte:
Arbeit zum Wohlfühlen. Mit unserem Programm kommen wir einer Welt ohne Schmerz und Sorgen einen Schritt näher.
Umweltschutz, Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit. Solid Green.
„Man hört immer wieder davon, dass Menschen nicht mehr wiederkommen, wenn sie über einen Recruiter angeworben wurden. Der Kontakt bricht völlig ab, die Firma leugnet in der Regel, tatsächlich einen Arbeitsvertrag mit der vermissten Person zu haben.“
Fine schaute abwesend auf ihren Tee, den sie währenddessen langsam mit einem kleinen Löffel durchrührte.
Wir tranken in Stille den Tee bis Fine aufsprang und etwas von einem Termin sagte, auf den sie sich ganz dringend vorbereiten müsse. Ich ging.